Schloss Versailles: Am 10. 08. 1901 beschlossen zwei konventionelle englische Akademikerinnen, Miss Charlotte Moberly und Miss Eleanor Jourdin, das Schloß und den Park von Versailles zu besichtigen, und gerieten damit völlig ahnungslos in eine der umstrittensten Geistergeschichten, von der je berichtet wurde.
Nachdem sie die großartigen Räume des Schlosses bewundert hatten, betraten die beiden Frauen den Park und spazierten in Richtung des Petit Trianon, einem Herrenhaus, das im Jahre 1762 für die Mätresse von Louis XV. erbaut und später von Marie Antoinette genutzt worden war.
Bald bemerkten sie, daß sie sich verlaufen hatten, und seltsamerweise keine weiteren Touristen in der Anlage zu sehen waren. Kurz darauf begegneten sie zwei Männern, die sich in ihren altmodischen Mänteln und Dreispitzen wie Gärtner ausnahmen. Als Miss Jourdin sich nach dem Weg erkundigte, antworteten sie nur kurz angebunden, doch die beiden Frauen folgten dem Weg, der ihnen gewiesen worden war. Zu diesem Zeitpunkt überkam Miss Moberly eine ungewöhnliche Traurigkeit, wie sie später in ihrem Tagebuch schrieb; ein Umstand, den sie ihrer Begleiterin damals nicht mitteilte. Genau zur gleichen Zeit überfiel Miss Jourdin ein geradezu überwätigendes Gefühl der Einsamkeit, und sie meinte schlafzuwandeln. Auch sie verschwieg zunächst diese Gefühle.
Versailles Gestalten
Sie begegneten im Park noch mehreren anderen Gestalten in zeitgenössischen Gewändern, unter anderem einem verhüllten Mann, der am Rande eines kleinen Wäldchens bei einer Bude saß. Miss Jourdin beschrieb, wie er sich ihnen zuwandte, als sie näher kamen, sie aber dennoch den Eindruck hatte, er nähme sie nicht richtig wahr. Sie erschrak jedoch zutiefst über sein schlimmes, pockennarbiges Gesicht.
Miss Moberly schrieb später, daß alles um sie herum ‚plötzlich unnatürlich, und damit unangenehm aussah. Es gab kein Spiel von Licht und Schatten, und kein Windhauch bewegte die Bäume. Alles war von einer intensiven Ruhe.‘
Als sie schließlich am Petit Trianon anlangten, sah Miss Moberly eine hübsche blonde Frau, auch sie in altmodischer Kleidung, die auf einem Stuhl im Gras saß und zu zeichnen schien. Wenige Minuten später betraten sie die Villa und mischten sich bald unter andere Touristen, die alle nach Art des zwanzigsten Jahrhunderts gekleidet waren. Der Bann war gebrochen.
Erst nachdem eine Woche verstrichen war, fühlten sich die zwei Frauen imstande, ihre Erlebnisse zu vergleichen, von denen sich nicht alle deckten.
Aber beide waren sich einig, daß ihnen in der Tat etwas sehr Ungewöhnliches widerfahren war.
In den darauffolgenden zehn Jahren besuchten sie Versailles unabhängig voneinander noch mehrere Male, fanden aber, daß sich sowohl die Landschaft als auch die Atmosphäre sehr von ihrem ersten Ausflug unterschied. Ganze Gebäude waren verschwunden, Ziegelmauern versperrten manche der Wege, die sie gegangen waren, und dort, wo die Dame ihre Skizzen angefertigt hatte, stand nun ein ausladender Rhododendron.
Sie stellten umfassende Nachforschungen an bezüglich des ursprünglichen Grundrisses der Gartenanlage und des Kleidungsstils der Menschen, denen sie begegnet waren.
Die Ergebnisse schienen unheimlich, aber beide kamen zum selben Schluß: Auf irgendeine Weise waren sie in die Vergangenheit zurückversetzt worden, und was sie beobachtet hatten, war das Leben am Schloß um das Jahr 1780, kurz vor der Französischen Revolution. Die beiden Frauen beschlossen daraufhin, ihr ungewöhnliches Erlebnis zu veröffentlichen und nannten es Ein Abenteuer (1911).
Dieses Buch löste viele kontroverse Diskussionen aus, und zahlreiche Experten, einschließlich der Gesellschaft für Parapsychologie, zeigten sich seinem Inhalt gegenüber oft skeptisch.
Dennoch meldeten sich weitere Zeugen, die ähnliche Erfahrungen in Versailles gemacht hatten, und die Streitgespräche wurden hitziger. Dann veröffentlichte Phillipe Jullian im Jahre 1965 eine Biografie des französischen Dandys Robert de Montesquiou, die den Vorfall aufzuklären schien. Er legte nahe, die Damen wären nur Zeuginnen eines von einer Madame de Greffuhle nahe des Petit Trianon abgehaltenen Kostümfestes gewesen. Es stellte sich jedoch heraus, daß dieses Fest bereits im Jahre 1894 stattgefunden hatte, sieben Jahre vor dem Besuch der beiden Frauen, und ein Brief von Madame de Greffuhle liefert den Beweis, daß sie sich am Tag des ‚Abenteuers‘ in London aufgehalten hat.
Die Angelegenheit bleibt nach wie vor ein Rätsel, das wohl nicht aufgeklärt werden kann.